
Mit den kriegerischen Ereignissen in der Ukraine wird zunehmend der Begriff des "gerechten Krieges" angesprochen. Was bedeutet dieses kriegstheoretische Konzept nach Clausewitz?
Ganz kurz geht das Konzept davon aus, dass ein Krieg gerecht sein kann, wenn er bestimmten Anforderungen genügt. Nun befinden wir uns in demokratischen Systemen, 200 Jahre nach Clausewitz, und wieder werden Konzepte von Krieg und Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts bemüht. Die Voraussetzungen haben sich geändert: Wir haben es jetzt mit einer völlig anderen politischen und wirtschaftlichen Situation zu tun. Dennoch setzten rechte, konservative Politiker:innen auf die veralteten Nationalstaaten und die alte Logik.
Kann es überhaupt einen gerechten Krieg geben?
Nein. Wir haben dieses Konzept schon unzählige Male in der Geschichte wiederholt, man denke beispielsweise an Religionskriege, und der Vorwand des "gerechten Krieges" ist bequem, um nicht nur Gewalt, sondern auch jegliche Herrschaftsansprüche rechtfertigen zu können. Wie soll man denn feststellen, welche Seite die richtigen Motive hat? Um wem steht man diese Autorität zu, das zu beurteilen? Wir spielen damit der Logik von Putin in die Hände, der absichtlich auf dieses Konzept zurückgreift. Recht und Gerechtigkeit sind nicht dasselbe. Klar, gibt es auch im Krieg Gesetze, die festlegen, was erlaubt ist. Aber Krieg moralisch zu rechtfertigen, führt das Friedensprojekt in Europa ad absurdum.
Mit Putin sind wir mit einem Mann konfrontiert, der eine Rhetorik des 19., 20. Jahrhunderts anwendet. Wie ordnen Sie das ein?
Diese Ideologien spielen in der Rechtfertigung des Krieges und im russischen Narrativ eine große Rolle. Es sind in der Vergangenheit einige Dinge passiert, die höchst bedenklich waren und diplomatisch problematisch. Zum Beispiel, als Obama in etwa meinte, dass Russland zu einer "Regionalmacht" geworden sei. Eine atomare Macht öffentlich so zu brüskieren, ist milde gesprochen "gewagt". Natürlich rechtfertigt nichts diesen Krieg, aber all diese kleinen und größeren Demütigungen haben Auswirkungen.
Das heißt: Wenn wir uns vor Putin und vor russischen Maßnahmen fürchten oder sogar vor einer nuklearen Auseinandersetzung, dann sichern wir seine Macht?
Ich würde die Bedrohung ernst nehmen, aber eine lähmende Angst tut rationalem Abwägen nie gut. Das heißt jetzt nicht, dass ich unterschätzen will, dass es zu dieser Eskalationsstufe kommen kann. Wir wissen es einfach nicht.
Kann man von Gleichberechtigung sprechen, wenn nur Männer in den Krieg ziehen müssen und Frauen auf der Flucht sind?
Frauen werden gewöhnlich als Opfer von kriegerischen Auseinandersetzungen dargestellt und nicht als Aktiv-Gewalt-Ausübende. Das soll jetzt kein Aufruf dafür sein, dass alle Frauen Soldatinnen werden müssen. Positiv ist, dass sich in west- und mitteleuropäischen Ländern Männer nach dem Zweiten Weltkrieg vom Konzept Krieg abgewendet haben. Das sehe ich als Fortschritt. Aber er entbindet Frauen nicht von der Aufgabe, sich ernsthaft Gedanken über die bestehenden Gewaltmonopole zu machen.
Was tun?
Putins Argumentation richtet sich gegen liberale Gesellschaften, die angeblich verweichlicht und bequem sind und um Luxus ringen. Würden wir jetzt zeigen, dass wir es mit den liberalen Werten ernst meinen und uns notfalls auch einschränken, das wäre wohl etwas, womit er am wenigsten rechnet.
Ist die Lösung auf Dinge zu verzichten, statt weiterhin auf Verhandlungen zu pochen?
Nein, Diplomatie und Verhandlungen sollten wir beibehalten. Ich würde gerne das Wort verzichten streichen, weil verzichten immer einen Verlust in sich trägt. Worauf bauen wir unseren Wohlstand auf: Auf den Rücken anderer oder durch einen Knicks zum richtigen Zeitpunkt? Wir müssen uns ernsthaft damit gesamtgesellschaftlich auseinandersetzen.
Wie kann man der breiten Masse vermitteln, dass man zurückstecken soll?
Ich glaube, uns fehlt das Denken, dass eine andere Art von "gutem Leben" möglich sein könnte, dass gut leben nicht heißen muss, alles jederzeit zu haben, sondern das, was man wirklich braucht. Wir hätten den bestehenden Wohlstand längst besser umverteilen können. Stichwort: Erbschafts- und Vermögenssteuern.
Ist das die Zeitenwende, von der alle sprechen?
Ich denke ja. Die Frage bei einer Krise ist, in welche Richtung wenden wir uns? Ich kann das jetzt natürlich als dystopisches Endzeit-Szenario verkaufen. Oder wir treiben den Ausstieg aus problematischen Energiequellen und Abhängigkeiten von fragwürdigen Autokraten voran. Das geht natürlich nicht von einem auf den anderen Tag. Wie schnell sich Dinge ändern können, wenn der Wille da ist, haben wir durch die Pandemie und diesen Krieg gesehen. Wir dürfen jetzt nicht nachlassen, es braucht eine kollektive Anstrengung und die positive Erzählung davon.
Redaktion: Elisabeth Weissitsch
Kategorie: Interview
Datum: 24.4.2022
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